Mittwoch, 28. Januar 2015

Barrieren

Quelle: © Tobias Brocher, Von der Schwierigkeit zu lieben
Wir schaffen unsichtbare Grenzen, deren Respektierung wir erwarten.
 Grenzen sind weiter außen in den Beziehungen der Arbeitswelt, 
näher innen in der Partnerbeziehung, aber auch dort existieren sie, 
ohne dass sie sich jemals ganz abbauen lassen. 
Ein innerer Bereich bleibt.
 Nur unter äußersten Umständen wären wir bereit, diesen Bereich für einen anderen, auch für den Nächsten, zugänglich zu machen, da wir in diesem inneren Raum
 uns selbst kaum zu begegnen wagen. 
Gerade diese Grenze ist jedoch die letzte Barriere gegen die Liebe,
 die wir uns selbst behalten und vorenthalten möchten. 
Wer sich nicht offenbaren kann, hat Schwierigkeiten zu lieben.
 Er wünscht ein Selbstbild aufrechtzuerhalten,
 das nichts mit seiner Wirklichkeit zu tun hat, 
aus Angst, er sei ohne dieses selbstgemachte Bild dem anderen ausgeliefert
 und dessen Liebe nicht wert. 
Die Einsamkeit zu zweien beruht auf einem solchen Vorbehalt. 
Er ist angst begründet aus erlernten Notwendigkeiten.
Das Selbstbild beruht auf einer langen, frühen Vorgeschichte, 
die uns ein Siegel einprägte:
 "Du bist meiner Liebe, Achtung und Anerkennung 
nicht wert, wenn du nicht..." 
Die Angst, Liebe zu verlieren, wenn man nicht bestimmte Forderungen erfüllt, entstammt den Resten jener Kindheitsabhängigkeit, 
die von vielen Eltern in so unbedachter, oft grausamer Form egoistisch 
dazu benutzt wird, Menschen nach ihrem Bilde zu formen. 
Die Bedeutung dieser ersten Beziehungsperson wird vergessen, 
die Haltung bleibt.
 Sie wird internalisiert, das heißt nach innen übernommen; 
wir folgen dann jenen erworbenen Regeln, die der Wirklichkeit so oft widersprechen, weil sie unser Verhalten unecht machen.
"Du musst immer freundlich zu allen Menschen sein, besonders zu mir" 
ist eine dieser Erwerbungen, die ursprünglich lautet:
 "Kindchen, gib Tantchen ein Händchen!" 
Zwang zu übertriebener Ordnungsliebe, zu überhöhtem Ehrgeiz, 
falscher Bescheidenheit und Scheu, aber auch verstärkter Leistungszwang und Geltungsdrang gehören zu den vielerlei "Kindchen-Regeln", von deren Erfüllung wir so abhängig wurden, dass wir sie auch späterhin blind befolgen in der gleichen, unbewussten Angst, Liebe, Wert und Anerkennung zu verlieren,
 wenn wir je dagegen verstoßen.
Im Umgang mit einem Partner kann ein solches Beziehungsklischee dann zur völligen Sinnentleerung führen, wenn beide Partner einander entsprechende Selbstbilder geformt haben, von deren Bestätigung sie abhängig sind. 
"Du musst immer stark und zuverlässig sein" 
passt zu
 "du musst immer schön alles in Ordnung halten".
 Das geht eine ganze Weile gut, aber es ist voraussehbar,
 dass an irgendeiner Stelle diese "Liebe" endet, 
weil sich das erwünschte Selbstbild nicht mehr bestätigen lässt.
 Plötzlich ist der Partner einmal nicht mehr "stark und zuverlässig",
 und umgekehrt kann beim anderen irgend etwas unerwartet in Unordnung geraten.
Die meisten Partnerschaften leiden unter ungelebtem Leben,
 das deshalb nie zum Vorschein kommt, weil das entstandene Beziehungsgefüge 
nur ganz bestimmte Seiten zulässt.
 So entstehen Monotonie und Gewohnheit: 
"Ich hab mich so an dich gewöhnt..." 
drückt zwar einen Anpassungsprozess aus, aber um welchen Preis?
 Wir hätten die Möglichkeit der Bewusstseinsentwicklung, 
wenn wir den Mut entwickeln würden, das Unerwartete, Überraschende, 
Neue zu tun und auszusprechen, freilich in der Voraussicht,
 damit zunächst auf die Verwunderung und die Abwehr des Partners zu stoßen,
 der sich in seinen eigenen Gewohnheiten beunruhigt sieht - jener gleichen Gewöhnung, die er möglicherweise zuvor als Langeweile beklagte.
Diese Erfahrung zeigt, dass wir in Partnerschaften eine bestimmte Struktur bilden, die sich zum stillschweigenden Gewohnheitsvertrag entwickelt. 
Bricht ein Partner diese Struktur, weil ihm plötzlich dämmert,
 dass er seine Frau in diesem Gewohnheitsvertrag nicht so sehr gut behandelt hat, 
so stößt er zunächst auf Misstrauen, auch wenn seine Absicht aus dem Gefühl neuer Liebe entstand, die er zum Ausdruck bringen will. 
Wir beklagen die Monotonie in manchen Partnerschaften. 
Der Versuch des anderen, die Beziehung neu zu beleben, 
lässt uns aber dann plötzlich begreifen, 
wie sehr wir uns selbst in der Gewohnheit bequem eingerichtet hatten.

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